Mord statt Sport?

Das Karolinen-Gymnasium hat Leichen im Keller. Mit dieser Nachricht hat wohl niemand gerechnet, als die Bauarbeiten an der neuen Sporthalle begannen. Denn kaum war die alte Halle abgerissen, hieß es: Baustopp!

Schauriger Fund

Die Bauarbeiter stießen auf Skelette, und ein Archäologenteam sollte nun aufdecken, was es mit dem schaurigen Fund auf sich hat.

Ein Skelett nach dem anderen erschien an der Erdoberfläche! In den Pausen drängten sich Schülerscharen am Tatort, um einen Blick vom Sensationsfund zu erhaschen. In der Tat war der Anblick der Skelette beeindruckend und faszinierend; für manche gar unheimlich.

Das Expertenteam indes schien sowohl von den Fundstücken als auch von den Schaulustigen wenig beeindruckt. Für sie kam der Fund menschlicher Skelett- und Mauerreste nicht wirklich überraschend; man wusste, dass man auf historischem Terrain war. Bereits im 12. Jahrhundert war hier die Klosteranlage des Augustiner-Chorfrauenstifts, später dann des Kapuzinerklosters. Frankenthal ging auch als Festungsstadt in die Geschichte ein: Die Mauerreste könnten also auch von der Festungsanlage aus dem 17. Jahrhundert stammen. Auch die 1811 eingerichtete „Armen- und Pflegeanstalt“ hatte hier ihren Standort. Die spätere Kreis- Kranken- und Pflegeanstalt war während der NS-Zeit Teil des sogenannten Euthanasieprogramms.

Knochenarbeit

Geduldig nahm man Maß, fügte Knochenteile zusammen. Die Sichtschutzplane, die nach wenigen Tagen angebracht wurde, legte einen weiteren Mantel des Geheimnisses um die Sache. Doch ganz so dramatisch war es nicht; in Wirklichkeit wollte man nur abseits der Blicke Schaulustiger ungestört arbeiten. Erstaunlich ist, dass die menschlichen Überreste direkt unter dem Betonfundament der in den fünfziger Jahren erbauten Turnhalle entdeckt wurden.

Erste Erkenntnisgewinne gab es bereits nach kurzer Zeit: So konnte bald ausgeschlossen werden, dass es sich um die menschlichen Überreste der Opfer des Nazi-Euthanasieprogramms handelte. Die Tatsache etwa, dass Knochen wild durcheinander im Boden verteilt vorgefunden wurden, spricht eher dafür, dass schon mehrfach Erdaushebungen und Grabungen durchgeführt worden waren. Genauere Datierungen der Funde aufgrund von Grabbeigaben waren nicht möglich; diese Tradition hatte es schon zu lange nicht mehr gegeben. Auch wurden Menschen seit Jahrhunderten in Holzsärgen bestattet, so dass auch hier keine genauere Festlegung auf bestimmte Zeiträume möglich war.

Die jetzt im Erdreich direkt bei den Knochen gefundenen Colaflaschen sind ein klares Indiz dafür, dass man beim Bau der Turnhalle bereits in den Fünfzigern auf Grabstellen gestoßen war, diese aber offensichtlich ignorierte. So sind die beschädigten Schädelknochen, die man jetzt entdeckte, nicht etwa Zeugen eines Gewaltverbrechens, sondern belegen vielmehr ein rücksichtloses Vorgehen bei den damaligen Bauarbeiten. Für weiterführende archäologische Untersuchungen schien man damals weder Zeit noch Interesse gehabt zu haben und befüllte eiligst wieder die Baugrube mit dem Aushub, gespickt mit Abfällen der Bauarbeiter.

Erster Spatenstich

Das lange Warten hat sich gelohnt: Erst nach langen und arbeitsintensiven archäologischen Untersuchungen konnte das Gelände im Dezember 2018 für den ersten Spatenstich freigegeben werden. Mittlerweile schmückt eine hochmoderne Sporthalle den Eingangsbereich unserer Schule. Auch der mit Spannung erwartete Grabungsbericht, der jetzt vorliegt, löst so manches Rätsel um den Sensationsfund auf.

Kriminalistische Spurensuche

Die detaillierten Erläuterungen dokumentieren zunächst einmal die sorgfältige und mit kriminalistischem Gespür durchgeführte Arbeit der Experten. An die sehr faktenbasierte und äußerst nüchterne Fachsprache der Archäologie muss man sich dabei aber erst gewöhnen.

Gleich zu Beginn heißt es etwa, dass ein „ein menschlicher Fuß im anatomischen Verband festgestellt werden“ konnte, ein Hinweis auf die kleinen Erfolge beim Zusammentragen der Knochen-Puzzleteilchen. Beim Aussortieren der Knochen spricht man vom „Wirrwarr an menschlichen Knochen ohne erkennbaren Zusammenhang“. Die Spurensuche beim Zusammentragen der menschlichen Überreste unserer Vorfahren gestaltete sich demnach als hochkomplex und schwierig. Interessant ist auch das im Bericht dargelegte strukturierte Vorgehen der Archäologen: Dem sogenannten Bodendenkmal (in unserem Fall den einzelnen Skelettteilen) wurden Befundnummern zugewiesen, anhand derer man die einzelnen Skelette mit Nummern „ansprechen“ konnte (so der Fachausdruck). So heißt es lapidar: „Das sich zunehmend abzeichnende menschliche Skelett wurde jetzt mit „30“ angesprochen.“

Bewegte Geschichte

Auch der Begriff „abschneiden“ erfährt im Zusammenhang mit den rücksichtslosen Grabungsarbeiten von vor ca. 70 Jahren eine Bedeutungsänderung: „Der Rest der Bestattung wurde abgeschnitten“, „die Füße sind wohl mit dem Bagger gekappt“. Nichts für schwache Nerven ist auch so manche Beschreibung des betreffenden Fundes, einer, wie es heißt, „plattgedrückte(n) Knochenmasse mit vereinzelten Zähnen“. Mehrmals stolpert die Leserin über die Bezeichnung „stören“. An einer Stelle, beispielsweise, sei das Skelett „im Bereich der rechten Körperhälfte massiv gestört“, auch fehle der „Kopf völlig“. Die archäologischen Untersuchungen ergaben, dass es zu diesen Störungen, also nachträglichen Veränderungen von Bodendenkmalen etwa durch Grabungen und Erdaushebungen, im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte mehrmals gekommen sein muss. Bewegte Geschichte sozusagen!

Es wurden ganze Grabreihungen freigelegt, man war also auf einen Friedhof aus vergangener Zeit gestoßen. Dabei fand man teilweise nur Reste einstiger Bestattungen vor. Auch entdeckte man im Verlauf der Arbeiten mehrere Steineinfassungen, also Teile von Grüften. Die erfahrenen Forscher und Forscherinnen erlebten aber auch die ein oder andere Überraschung; beispielsweise kamen bei den Ausgrabungen noch weitere Grüfte auf anderen Ebenen und aus anderen Zeiten zum Vorschein. Offensichtlich gab es Mehrfachbelegungen der Grüfte und übereinanderliegende Bestattungen.

Kenntnisse über die Anatomie des menschlichen Körpers sind auch vonnöten, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Bei der Freilegung einer Knochenlage fand man zwei Kreuzbeine. Folglich musste man sich auf die Suche nach zwei bestatteten Individuen machen.

Die unterschiedliche Dicke der Mauerreste gibt Hinweise auf eine zumindest grobe zeitliche Einordnung der jeweiligen Bauphasen. Bei vielen Steinfunden handelt es sich um das Gebäude der ehemaligen Armen- und Pflegeanstalt, welches wiederum in das Gemäuer des früheren Kapuzinerklosters (1685-1802) integriert wurde. Manche der freigelegten Grüfte lagen vermutlich in der neuen Kirche des Klosters, also an der Stelle, wo sich vorher das Augustinerchorfrauenstift befand. Mörtelreste in den freigelegten Gräbern legen die Vermutung nahe, dass dort vor der Nutzung der Fläche als Friedhof ein Bau gestanden haben muss, welcher wohl einem Abriss oder einer Zerstörung zum Opfer fiel. Erstaunlich ist auch, dass Gräber über lange Jahre hinweg stets an gleicher Stelle angelegt wurden. Die Toten wurden also regelrecht gestapelt.

Die Keramik in den Gräbern lässt sich auf das 12. bis 15. Jahrhundert zurückdatieren. Bei der Recherche hierzu im Archiv der Landesarchäologie Speyer stieß man auf eine aufschlussreiche Quelle, die beschreibt, dass im Jahr 1884 der Hausmeister der bereits erwähnten Kranken- und Pflegeanstalt bei Renovierungsarbeiten eine Gruft mit einem Skelett fand. Es handelte sich hierbei um die Überreste des 1520 gestorbenen Abtes des Klosters.

Geschichte wird aufdeckt

Bleibt festzustellen, dass immer dann, wenn Neubauten getätigt werden oder das betreffende Gelände etwa durch Krieg und Zerstörung in Mitleidenschaft gezogen wird, vergangene Zeiten auftauchen. Nur selten, so die Erfahrung der Experten, wurde den Bestatteten eine letzte Ruhe‘ gewährt. Tatsächlich wurde das Gelände schon mehrfach umgegraben bzw. umgelagert, beispielsweise 1943 nach der Zerstörung des Gebäudes der Heil- und Pflegeanstalt im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges oder 1959 bei der friedlichen Mission des Baus des Karolinen-Gymnasiums. Highlight der aktuellen Grabungen war die überraschende Entdeckung eines Brunnens, der vermutlich im Zusammenhang mit dem Neubau unserer damals im Volksmund „Töchterschule“ genannten Schule um das Jahr 1960 geschlossen wurde; dies ergab die Untersuchung des dafür verwendeten Mörtels.

Der Neubau der Sporthalle setzt folglich die Tradition der Wiederentdeckung und Aufdeckung von Stadtgeschichte fort. Kein Wunder, dass die Archäologen insgesamt kaum verwundert und doch stellenweise überrascht waren über ihre Entdeckungen.

Insgesamt belegt der detaillierte und sehr sachlich formulierte Grabungsbericht auf beeindruckende Weise das detektivische Vorgehen der Archäologen, das zu interessanten Ergebnissen führte.

Aus all diesen im Bericht geschilderten Untersuchungen ergibt sich die Erkenntnis, dass die Skelette z.T. aus dem 16. Jahrhundert stammen und dass alle auf jeden Fall älter als die „Armen- und Pflegeanstalt“ von 1817 sind.

Manches bleibt im Dunkeln

Nicht zuletzt räumt der Bericht auf mit dem Klischee der mit Pinselchen hantierenden und die Funde feinsäuberlich putzenden Archäologen und Archäologinnen. Ihre Arbeit ist in der Tat unentbehrlich, nicht zuletzt was die Aufdeckung der Geschichte Frankenthals und damit auch der unserer Schule angeht.

Und doch – auch dies wird im Bericht deutlich – bleibt so manches noch im Dunkeln. Es bleibt also spannend und lädt zu weiteren fachwissenschaftlichen Spekulationen ein.

Anneli Langhans-Glatt